
Die wichtigste Fähigkeit und Aufgabe eines Musikers besteht meiner Meinung nach darin, mit seinen Songs andere das fühlen zu lassen, was er fühlt. Schafft er das nicht, ist er kein Künstler, sondern lediglich ein Handwerker. Das gilt vom Soloviolinisten über die Death Metal-Band bis hin zum Aggro Berlin-Rapper. Ein Musiker, der es immer wieder auf fast schon unheimliche Weise schafft, in meinen Gefühlshaushalt einzugreifen, ist Mike Ness. Es ist magisch, wie nahe mir seine Songs auch wieder auf seiner neuen SOCIAL DISTORTION-Scheibe "Hard Times and Nursery Rhymes" gehen. Ich sitze heute morgen im Auto und muss fass heulen, als ich "Writing on the Wall" zum ersten Mal höre. Es ist draußen eiskalt - heute morgen musste ich Scheiben kratzen - aber während "Bakersfield" sitze ich mit meiner Schrotflinte auf einer Südstaatenveranda und trinke bei 30 Grad im Schatten Root Beer. Solche Trips schaffen nur Künstler, die selbst viel erlebt haben, Künstler, die wissen, wie Menschen ticken und das Leben läuft. Mike Ness schafft es gleichzeitig Kumpel, großer Bruder und Vaterfigur zu sein und vergisst dabei trotz aller Melancholie, Nostalgie und echter Weisheit in seinen Texten nie die Lebensfreude, das große "Tu's lieber heute - wer weiß was morgen ist".
Die Musik bildet dafür das wunderbare Vehikel. Dabei ist der Einstieg mit dem instrumentalen "Road Zombie" und der entspannten Boogie-Nummer "California (Hustle and Flow)" zunächst eher ungewöhnlich. Das Album braucht ein wenig bis der Kick einsetzt. "Gimme the Sweet and Lowdown" stellt mit seinen zuckersüßen Fifties-Melodien auf einem gesunden Streetpunk-Fundament, wie es für Social D. nicht typischer sein könnte, den Schlüssel zur Platte dar. Man stellt fest, die Band rockt entspannter, weniger energisch - schlichtweg klassisch. Ohne Mike Ness' Stimme und einer Handvoll exzessiver Stratocaster-Soli mehr könnten die Songs teils auch als astreiner Southern Rock durchgehen. Die Produktion scheint auch luftiger zu sein als noch auf "Sex, Love and Rock'n'Roll". Die Wut von "White Trash..." spürt man kaum mehr. Stattdessen taucht zwischen den Zeilen, den coolen Licks und überlebensgroßen Melodien ein Mensch auf, der nach Jahren am Boden und Momenten zwischen den Sternen seinen Platz im Leben gefunden hat und mit sich und den Seinen im Reinen ist. Nostalgisch blickt er nun auf gute wie schlechte Zeiten zurück und gibt seine Erfahrungen an die Jüngeren weiter. "Diamond in the Rough" und "Machine Gun Blues" sind beste Rocker, die auch auf dem Vorgänger hätten stehen können. Mit der melancholischen Hymne "Bakersfield" folgt der erste Höhepunkt. Wie ich mich auf den Sommer freue und darauf, dieses Lied nachmittags bei 30 Grad und einem Glas Whiskey zu hören. Es ist müßig, weitere Songs hervorzuheben. Jeder einzelne Track ist Social Distortion pur. Lediglich auf das grandios nostalgische "Writing on the Wall" wäre gesondert hinzuweisen sowie das soulige, eher untypische "Can't take it with you". Der gut gelaunte Punkrocker "Still alive" greift danach den Bogen zu "Gimme the Sweet..." auf und rundet das grandiose Album perfekt ab. Besser kann man Rockmusik im Jahr 2011 nicht spielen.