von The-Aftermath » 29. August 2016, 21:57
Ich bin überraschenderweise gar nicht enttäuscht. So hätten die letzen beiden THE GATES OF SLUMBER-Veröffentlichungen klingen müssen. Und aus alter Gewohnheit, im Folgenden etwas ausführlicher:
Insgesamt über zwei Jahre hat es gedauert, bis das Debüt des inoffiziellen THE GATES OF SLUMBER-Nachfolgers WRETCH letzten Freitag endlich über Bad Omen Records erschien. Eine schwierige Geburt. Doch angesichts der persönlichen Widrigkeiten, denen sich Bandgründer Karl Simon während dieser Zeit stellen musste (Erst letzte Woche ist mit J. Clyde Paradise ein weiteres Ex-Mitglied von THE GATES OF SLUMBER früh verstorben), kann man von Glück sprechen, dass das Album überhaupt fertiggestellt werden konnte. Karl selbst äußerte sogar Zweifel daran, ob die Zeit überhaupt noch ausreichen würde, um seine musikalischen Ideen, die seit dem Tod des ehemaligen THE GATES OF SLUMBER-Bassisten Jascon Maccash (†2014) Form angenommen hatten, veröffentlichen zu können. Dass Karl nicht sein eigenes Ende, sondern den musikalischen Neubeginn gewählt hat, kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden, denn das Debüt von WRETCH ist eine Doom-Scheibe im klassischsten Sinne geworden, deren Qualität gerade auf den Umstand zurückzuführen ist, dass die Songs während eines mehrjährigen emotionalen Martyriums herangereift sind.
Dabei ist vor allem positiv zu vermerken, dass Karl seine persönliche Leidensgeschichte, welche das Fundament der Texte bildet, musikalisch nicht auf eindimensionale Weise umsetzt: „Wretch“ überrascht mit einer unerwarteten Dynamik und einer starken Hardrock/klassischer Heavy Metal-Schlagseite („Klassisch“ ist hier im Sinne der 70er-Jahre zu verstehen, als sich das Genre noch an der Schwelle zum Blues und Hardrock der späten 60er-Jahre bewegte. Daher stellt das Cover von PRIESTs „Winter“ auch eine perfekte Wahl dar, stammt der Song doch gerade aus diesem spannenden Zeitabschnitt), und verzichtet auf Selbstmitleid-versprühende, pseudo-düstere 0815-Doomsongs, wie sie die Szene in den letzten Jahren zuhauf hervorbrachte. Innovation hört sich selbstredend anders an, doch eine solche souveräne Bündelung der Genre-Wurzeln in einem zeitgemäßen Soundgewand (Fantastische Produktion!) vermag sich nicht jeder Hobby-Iommi ohne Weiteres aus dem Ärmel zu schütteln.
In diesem Zusammenhang gilt es auch, die für THE GATES OF SLUMBER-Fans alles entscheidende Frage zu beantworten: Inwiefern klingt das Material „wie früher“ und inwiefern wird die Qualität der alten Diskografie erreicht? Ich werde kurz ausholen: Welche Bedeutung THE GATES OF SLUMBER für mich persönlich hatten (und haben), wissen die meisten User dieses Boards. Gleichzeitig waren meine Erwartungen an WRETCH äußerst gering. Ein Paradox? Nicht unbedingt. Denn THE GATES OF SLUMBER hatten nach „Hymns Of Blood and Thunder“ (2009) eine Kursänderung in Richtung eines klassischeren Doom-Sounds eingeschlagen, welche die Band jedoch nicht zur überragenden Form ihrer frühen Jahre zurückführte, sondern sie immer orientierungs- und kraftloser erschienen ließ. Der Vorsatz, jeden „Epic“- und Conan-Ballast über Bord zu schmeißen und spröden, kompromisslosen Doom mit Alltagsbezug in den Texten zu spielen, scheiterte zumindest in meinen Ohren. Der Wurm steckte unter anderem im Songwriting: Klassische Heavy Metal-Riffs und mitreißende Refrains wichen staubtrockenen und monotonen Kompositionen, die sich immer wieder in endlosen Wiederholungen und fade outs verloren. Wahrscheinlich war auch der THE GATES OF SLUMBER-Kontext an sich problematisch, denn man erinnerte sich unweigerlich an das Material der „Conqueror“-Phase (2008), an dem sich die Songs der Jahre 2011-2013 messen mussten. Hinzu kam die schwierige interne Situation der Band, die 2013 zum Split führte.
Gerade in dieser Hinsicht ist Karl mit WRETCH ein Befreiungsschlag gelungen. Die Musik setzt die Stilrichtung der letzten THE GATES OF SLUMBER-Veröffentlichung „Stormcrow“ (2013) fort, doch mit einer hörbar anderen Herangehensweise. Die Riffs sind wieder mitreißender, die Refrains besitzen wieder einen Wiedererkennungswert, die direkte Hinwendung zu den frühen SABBATH wirkt nicht verkrampft, sondern souverän. Fürchterliche „Stoner“-Assoziationen, wie sie die letzten Alben von THE GATES OF SLUMBER teilweise hervorriefen, kommen schon allein deshalb nicht zum Vorschein, weil die Songs wieder mehr atmen, dynamischer daher kommen, rockiger ausfallen. Selbst bei einem Jam-Song wie „Bloodfinger“ oder dem sich erst langsam aufbäumenden „Icebound“ denkt man nicht an KYUSS, sondern an „Master of Reality“, „Born Too Late“ und teilweise sogar an alte THE GATES OF SLUMBER-Großtaten. Auch die Tatsache, dass die gesamte Angelegenheit in nur 30 Minuten vorbei ist, ist als positiver Faktor zu werten, denn die Songs von „Stormcrow“ und „The Wretch“ (2011) litten hörbar unter ihrer Überlänge. Auf „Wretch“ schafft es Karl, in einer halben Stunde beinahe sämtliche Facetten seiner Ex-Band einzufangen: Vom melancholischen Instrumental („Grey Cast Mourning“) über die absolute Iommi-Verneigung („Drown“) hin zur metallisch-polternden Dampfwalze („Running out of Days“) sind alle Farbtöne der Genre-Palette abgedeckt. „Wretch“ bleibt gerade dadurch nicht in der engen Doom-Schublade stecken, sondern setzt sich selbstbewusst zwischen die Stühle Heavy Metal, Doom, Hardrock und Blues und knüpft somit an den Urzustand des Genres an. Eine akustische Wohltat in Zeiten von durchkalkuliertem Malen-nach-Zahlen-Metal.
Die Zeit wird zeigen, ob Karl damit ein zweiter, später Erfolg vergönnt sein wird. Ich befürchte, dass WRETCH der „Hip“-Fakor fehlt, um in der heutigen Underground-Szene genügend Staub aufzuwirbeln. „Wretch“ ist kein fancy veganer Hamburger aus dem Foodtruck deines gepiercten Hipster-Nachbarn, sondern 'ne ranzige Currywurst aus dem Imbisswagen hinterm Hauptbahnhof. Aber da schmeckt's halt noch wie früher!​
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The-Aftermath am 30. August 2016, 16:58, insgesamt 2-mal geändert.
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