Metal und das archaische Vinyl – eine kleine Analyse
Verfasst: 23. Februar 2010, 20:21
Metal und der archaische Tonträger Vinyl – eine kleine Analyse
Offenbar weigert sich ein ursprünglich totgesagtes Medium hartnäckig, unterzugehen. Alleine in den USA hat sich der Absatz von LPs im Jahre 2008 gegenüber 2007 auf 1,88 Millionen Stück verdoppelt. Zweidrittel davon wurden in unabhängigen Musikfachgeschäften verkauft. Erhöhte Verkaufsumsätze lassen sich ansonsten nur beim nichtphysischen Musik-Download beobachten. Das gilt auch für Deutschland. Während bei uns der CD-Absatz 2008 auf 145 Millionen erneut zurückging (2007: 149 Millionen; bestes Jahr: 1998 mit 277 Millionen), stieg der Vinyl-Absatz im Jahr 2008 auf rund 900.000 Exemplare (2007: 800.000). Die Fachzeitschrift Stereo hält hierzu allerdings fest: "Tatsächlich dürfte der Vinyl-Absatz noch deutlich höher liegen, weil kleine Spezialgeschäfte in der Statistik nicht erfasst werden." Der Bundesverband der Musikindustrie sprach mit Blick auf die LP gar vom "Comeback des Jahres". Eine nicht unbedeutende Rolle beim Tonträgerabsatz insgesamt fällt dem Rock und seinem Genre Metal zu (etwa 21 Prozent). Was den Metaller allerdings schaudern lässt: 2008 wurden in Deutschland gegen Entgelt 45 Millionen Songs (2007: 40 Millionen) und 3,9 Millionen ganze Alben (2007: 2,6 Millionen) aus dem Netz geladen. (Quellen: Stereo / FAZ / Computerworld).
Vermutlich wird es einigen wie mir ergangen sein. Nach dem Aufkommen der CD verabschiedeten sich viele in den 1990er Jahren von der LP. Nun kehren immer mehr zurück – auch ich. Darauf hat sich die teilweise recht unabhängige Metal-Industrie mit sammlerorientierten Kleinstauflagen eingestellt. Eigentlich ist das unlogisch. Vom kleineren Cover abgesehen spricht ansonsten alles für und fast nichts gegen die CD: Man kann sie einfach kopieren und mit ins Auto nehmen. Sie knistert nicht und unterliegt auch sonst nicht den vergleichsweise enormen physikalischen Beschränkungen der LP. Die CD ist schlicht pflegeleichter und handlicher. Bestimmte LP-Hardcore-Fraktionen halten dagegen, die LP klinge aufgrund des analogen Ausgangsmaterials "wärmer". Daran wird sogar festgehalten, obwohl die meisten heute hergestellten LPs bereits digital aufgenommen oder vor der Pressung einem digitalen Mastering unterzogen wurden. Der angebliche Vorteil des analogen Vinyl-Genusses wird so praktisch ad absurdum geführt. Warum kaufen Metal-Fans also LPs?
1. Musikalischer Code und Anderssein
Musikalischer wie optisch-ästhetischer Code des Heavy Metal wirken und funktionieren als Gegenentwurf zum Mainstream. Metal ist laut, heftig, schnell. Optisch kommt er düster, schrill und manchmal sogar abstoßend daher. Das alles ist schlichtweg nicht massentauglich. Versuche der Major-Companies, den Metal zu vermassen, mussten von wenigen Ausnahmen abgesehen scheitern und führten ihn Ende der 1980er Jahre fast in den Untergang. Über die Jahre hat der Metal seine Schwäche der Masseninkompatibilität in Stärke umgewandelt. Denn er entwickelte aus sich selbst heraus eine sich selbst tragende Sub-Kultur, eine funktionierende, kleine, weitgehend unabhängige Metal-Kulturindustrie. Getragen wird diese von der unbeirrbaren Loyalität der Fangemeinde. Wer sich zum Metal bekennt, bekennt sich im Sinne des Mainstreams zum Anderssein. Nichts kommt diesem Genregefühl näher als der Kauf von LPs. Masse ist CD und MP3. Metal ist LP. Ein User des Forums brachte das mal mit den Worten, LP-Kaufen sei eine archaische Widerstandshandlung gegen den Markt, auf den Punkt.
2. Ästhetik der Abgrenzung
Metal ist in erster Linie unpolitisch. Viel stärker ist Metal dagegen bei Texten und Optik von Mystik- und Fantasie-Elementen durchdrungen. Dieser Kultur-Impetus wird bei Tonträgern optisch über das Cover ausgedrückt. Wie jeder optische Code dient dies ebenso der Abgrenzung. Gerade beim Metal ist ein Cover also nicht nur ein Cover. Das Metal-Cover ist der gebündelte visuelle Ausdruck seiner selbst. Mögen die Zeichnungen noch so schlecht sein, sie bringen Metal als Metal auf den Punkt. Ein LP-Cover ist hierfür deutlich besser als das einer CD geeignet. Und eine MP3 funktioniert schon gar nicht mehr.
3. Ritualisierte Musik-Wiedergabe
Zwar ist Metal keine Religion, doch versteht sich Metal in Abgrenzung von anderen Genres als Gesamtkunstwerk. Wer anders ist oder anders sein will, legt auch anders Musik auf. So wird dem Gesamtkunstwerk eine weitere Bedeutung verliehen. Warum sollte man eine CD einfach ins Laufwerk werfen, wenn es mit der LP doch viel komplizierter ist? Also wird das Musikhören mit der LP zur rituellen Metal-Handlung: Cover in die Hand nehmen, sich am Motiv erfreuen (auch wenn es echt schlecht sein sollte), Gatefold – falls vorhanden – huldigen, LP vorsichtig aus der Hülle holen, heavy Vinyl (mindestens 180 Gramm) huldigen, Vinyl auf optische Mängel überprüfen, Vinyl säubern, Vinyl vorsichtig auf Plattenteller legen, Nadel vorsichtig auf Vinyl legen, Knistern zu Metal umdeuten, beim Hören Cover anschauen. All das kommt einem quasi-religiösen Ritual gleich, welches in dieser besonderen Form nur dem Metal innewohnt. Der liebevolle Umgang im Zuge der Hörvorbereitung kann ebenso als eine Art Respektsbezollung gegenüber denjenigen verstanden werden, die dem Hörer sein musikalisches Metal-Erlebnis verschafft haben.
4. Jagen und sammeln
Seine besondere archaische Grundhaltung bringt der Metaller durch teilweise irrationale Anhäufung und Zurschaustellung technisch überholter Tonträger (LP) zum Ausdruck. Das stärkt sein Selbstwertgefühl und überhöht seinen Anspruch auf Andersartigkeit.
Möge der Metal-Gott uns gnädig sein und die restlichen Vinylpressmaschinen schützen. Neue werden nämlich nicht mehr gebaut.
Gruß, Heiko
(geschrieben, während Journey von CD erklang!)
Offenbar weigert sich ein ursprünglich totgesagtes Medium hartnäckig, unterzugehen. Alleine in den USA hat sich der Absatz von LPs im Jahre 2008 gegenüber 2007 auf 1,88 Millionen Stück verdoppelt. Zweidrittel davon wurden in unabhängigen Musikfachgeschäften verkauft. Erhöhte Verkaufsumsätze lassen sich ansonsten nur beim nichtphysischen Musik-Download beobachten. Das gilt auch für Deutschland. Während bei uns der CD-Absatz 2008 auf 145 Millionen erneut zurückging (2007: 149 Millionen; bestes Jahr: 1998 mit 277 Millionen), stieg der Vinyl-Absatz im Jahr 2008 auf rund 900.000 Exemplare (2007: 800.000). Die Fachzeitschrift Stereo hält hierzu allerdings fest: "Tatsächlich dürfte der Vinyl-Absatz noch deutlich höher liegen, weil kleine Spezialgeschäfte in der Statistik nicht erfasst werden." Der Bundesverband der Musikindustrie sprach mit Blick auf die LP gar vom "Comeback des Jahres". Eine nicht unbedeutende Rolle beim Tonträgerabsatz insgesamt fällt dem Rock und seinem Genre Metal zu (etwa 21 Prozent). Was den Metaller allerdings schaudern lässt: 2008 wurden in Deutschland gegen Entgelt 45 Millionen Songs (2007: 40 Millionen) und 3,9 Millionen ganze Alben (2007: 2,6 Millionen) aus dem Netz geladen. (Quellen: Stereo / FAZ / Computerworld).
Vermutlich wird es einigen wie mir ergangen sein. Nach dem Aufkommen der CD verabschiedeten sich viele in den 1990er Jahren von der LP. Nun kehren immer mehr zurück – auch ich. Darauf hat sich die teilweise recht unabhängige Metal-Industrie mit sammlerorientierten Kleinstauflagen eingestellt. Eigentlich ist das unlogisch. Vom kleineren Cover abgesehen spricht ansonsten alles für und fast nichts gegen die CD: Man kann sie einfach kopieren und mit ins Auto nehmen. Sie knistert nicht und unterliegt auch sonst nicht den vergleichsweise enormen physikalischen Beschränkungen der LP. Die CD ist schlicht pflegeleichter und handlicher. Bestimmte LP-Hardcore-Fraktionen halten dagegen, die LP klinge aufgrund des analogen Ausgangsmaterials "wärmer". Daran wird sogar festgehalten, obwohl die meisten heute hergestellten LPs bereits digital aufgenommen oder vor der Pressung einem digitalen Mastering unterzogen wurden. Der angebliche Vorteil des analogen Vinyl-Genusses wird so praktisch ad absurdum geführt. Warum kaufen Metal-Fans also LPs?
1. Musikalischer Code und Anderssein
Musikalischer wie optisch-ästhetischer Code des Heavy Metal wirken und funktionieren als Gegenentwurf zum Mainstream. Metal ist laut, heftig, schnell. Optisch kommt er düster, schrill und manchmal sogar abstoßend daher. Das alles ist schlichtweg nicht massentauglich. Versuche der Major-Companies, den Metal zu vermassen, mussten von wenigen Ausnahmen abgesehen scheitern und führten ihn Ende der 1980er Jahre fast in den Untergang. Über die Jahre hat der Metal seine Schwäche der Masseninkompatibilität in Stärke umgewandelt. Denn er entwickelte aus sich selbst heraus eine sich selbst tragende Sub-Kultur, eine funktionierende, kleine, weitgehend unabhängige Metal-Kulturindustrie. Getragen wird diese von der unbeirrbaren Loyalität der Fangemeinde. Wer sich zum Metal bekennt, bekennt sich im Sinne des Mainstreams zum Anderssein. Nichts kommt diesem Genregefühl näher als der Kauf von LPs. Masse ist CD und MP3. Metal ist LP. Ein User des Forums brachte das mal mit den Worten, LP-Kaufen sei eine archaische Widerstandshandlung gegen den Markt, auf den Punkt.
2. Ästhetik der Abgrenzung
Metal ist in erster Linie unpolitisch. Viel stärker ist Metal dagegen bei Texten und Optik von Mystik- und Fantasie-Elementen durchdrungen. Dieser Kultur-Impetus wird bei Tonträgern optisch über das Cover ausgedrückt. Wie jeder optische Code dient dies ebenso der Abgrenzung. Gerade beim Metal ist ein Cover also nicht nur ein Cover. Das Metal-Cover ist der gebündelte visuelle Ausdruck seiner selbst. Mögen die Zeichnungen noch so schlecht sein, sie bringen Metal als Metal auf den Punkt. Ein LP-Cover ist hierfür deutlich besser als das einer CD geeignet. Und eine MP3 funktioniert schon gar nicht mehr.
3. Ritualisierte Musik-Wiedergabe
Zwar ist Metal keine Religion, doch versteht sich Metal in Abgrenzung von anderen Genres als Gesamtkunstwerk. Wer anders ist oder anders sein will, legt auch anders Musik auf. So wird dem Gesamtkunstwerk eine weitere Bedeutung verliehen. Warum sollte man eine CD einfach ins Laufwerk werfen, wenn es mit der LP doch viel komplizierter ist? Also wird das Musikhören mit der LP zur rituellen Metal-Handlung: Cover in die Hand nehmen, sich am Motiv erfreuen (auch wenn es echt schlecht sein sollte), Gatefold – falls vorhanden – huldigen, LP vorsichtig aus der Hülle holen, heavy Vinyl (mindestens 180 Gramm) huldigen, Vinyl auf optische Mängel überprüfen, Vinyl säubern, Vinyl vorsichtig auf Plattenteller legen, Nadel vorsichtig auf Vinyl legen, Knistern zu Metal umdeuten, beim Hören Cover anschauen. All das kommt einem quasi-religiösen Ritual gleich, welches in dieser besonderen Form nur dem Metal innewohnt. Der liebevolle Umgang im Zuge der Hörvorbereitung kann ebenso als eine Art Respektsbezollung gegenüber denjenigen verstanden werden, die dem Hörer sein musikalisches Metal-Erlebnis verschafft haben.
4. Jagen und sammeln
Seine besondere archaische Grundhaltung bringt der Metaller durch teilweise irrationale Anhäufung und Zurschaustellung technisch überholter Tonträger (LP) zum Ausdruck. Das stärkt sein Selbstwertgefühl und überhöht seinen Anspruch auf Andersartigkeit.
Möge der Metal-Gott uns gnädig sein und die restlichen Vinylpressmaschinen schützen. Neue werden nämlich nicht mehr gebaut.
Gruß, Heiko
(geschrieben, während Journey von CD erklang!)